Behandlungsfehler, Befunderhebungsfehler, Diagnosefehler, „grober“ Behandlungsfehler im Arzthaftungsrecht – was ist was?
Ein Überblick
Im Arzthaftungsrecht spielen die Begriffe „Behandlungsfehler“, „Befunderhebungsfehler“, „Diagnosefehler“ und „grober Behandlungsfehler“ eine entscheidende Rolle. Mit jedem Fehlertyp geht eine bestimmte Beweislastverteilung einher. Um Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche erfolgreich geltend machen zu können ist es wichtig genau zu wissen, welchem Fehlertyp das vorgeworfene ärztliche Fehlverhalten zuzuordnen ist
Behandlungsfehler
Der Behandlungsfehler wird oft auch als Kunstfehler bezeichnet. Die Erklärung ist das lateinische „lege artis“ oder das englische „state of art“, was „Regeln der ärztlichen Kunst“ bedeutet.
Nach § 276 BGB schuldet der Arzt dem Patienten vertraglich wie deliktisch die im Verkehr erforderliche Sorgfalt. Diese bestimmt sich weitgehend nach dem medizinischen Standard des jeweiligen Fachgebietes, das heißt, der Arzt muss diejenigen Maßnahmen ergreifen, die von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereiches vorausgesetzt und erwartet werden kann (vgl. BGH NJW 1995, 776). Hieraus folgt, dass eine ärztliche Behandlung dann fehlerhaft war, wenn sie dem im Zeitpunkt der Behandlung bestehenden medizinischen Standard zuwiderlief (BGH NJW 2011, 1672). Der Standard gibt hierbei Auskunft darüber, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs im Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann und repräsentiert zugleich den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zu zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat (vgl. BGH NJW-RR 2014, 1053).
Fazit: Ein Behandlungsfehler, umgangssprachlich auch Kunstfehler genannt, ist der Oberbegriff für ärztliches Fehlverhalten und liegt nach deutschem Recht dann vor, wenn eine medizinische Behandlung nicht nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards erfolgt.
Befunderhebungsfehler
Ein Befunderhebungsfehler ist ein Unterfall des allgemeinen Behandlungsfehler. Ein Befunderhebungsfehler ist gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener diagnostischer Maßnahmen (Befunde) unterlassen wird (BGH, NJW 2011, 1672, Rn. 13). Der Arzt ist gehalten, medizinisch einwandfrei gebotene Befunde zu erheben und die im konkreten Fall notwendigen diagnostischen Mittel einzusetzen, wobei sich Intensität der Diagnose und Auswahl der Mittel nach der Eilbedürftigkeit und der Schwere der Erkrankung, auf die die Symptome hindeuten, richten. Elementare Befunde sind immer zu erheben, wenn sie für die Behandlung von Relevanz sind. Verdachtsdiagnosen sind abzuklären. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass eine vollständige Abklärung sämtlicher theoretisch in Betracht kommender Erkrankungen nicht angezeigt sein muss. Insbesondere wenn die Befunderhebung den Patienten selbst einer Belastung oder Gefährdung aussetzt (zum Beispiel Röntgenstrahlung, schmerzhafter Eingriff, Gefahr von Komplikationen etc.), ist der erwartete Nutzen in Verhältnis zu den Belastungen und Gefahren zu setzen. Der Nutzen bestimmt sich dabei unter Berücksichtigung des Ausmaßes der Ungewissheit, die durch die Befunderhebung abgeklärt werden soll, der Aussagekraft des zu erhebenden Befundes, der Wahrscheinlichkeit der abzuklärenden Erkrankung und dem Ausmaß der von ihr ausgehenden Gefahren für die Gesundheit des Patienten. Auch sogenannte Zufallsbefunde, die sich auch ohne medizinische Indikation bei der Diagnose ergeben haben, müssen für die weitere Behandlung berücksichtigt werden (BGH NJW 2011, 1672 Rn. 12). Bei unklarem Krankheitsbild müssen vor allem hinsichtlich der Möglichkeit schwerer Krankheiten alle Diagnosemöglichkeiten ausgeschöpft werden, was gegebenenfalls wiederholte Diagnose- und Kontrolluntersuchungen bei verdächtigen Werten einschließen. Wurde in vertretbarer Weise eine Diagnose getroffen, aber zeigt die begonnene Therapie keine Wirkung, muss der Arzt die Diagnose im weiteren Behandlungsverlauf überprüfen. Im Einzelfall sind fachlich besser vertraute Kollegen hinzuzuziehen. Der Arzt muss ferner für eine ordnungsgemäße Organisation der Befunderhebung sorgen, auch hinsichtlich der Vermeidung unnötiger Verzögerungen.
Die Frage, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation im Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann, bestimmt sich aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachgebiets zum Zeitpunkt der Behandlung (BGH NJW-RR 2014, 1053, Rn. 11, 20). Der geforderte fachliche Standard meint denjenigen Standard, der von Angehörigen der Behandlungsgruppe der Behandelnden bei der Durchführung der jeweiligen Behandlung einzuhalten ist, also eine Behandlung, wie sie ein durchschnittlich qualifizierter gewissenhafter und aufmerksamer Behandler des jeweiligen Fachgebietes nach dem jeweiligen Stand von medizinischer Wissenschaft und Praxis an Kenntnissen, Wissen, Können und Aufmerksamkeit zu erbringen im Zeitpunkt der Behandlung in der Lage ist. Zur Bestimmung ist auf den jeweils anerkannten Kenntnisstand der (medizinischen) Wissenschaft zurückzugreifen. Der Standard umfasst den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der Erfahrung im Bereich der jeweiligen Behandlung, der zur Erreichung des Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat.
Fazit: Ein Befunderhebungsfehler liegt zusammengefasst dann vor, wenn ein Arzt die Erhebung medizinisch gebotener diagnostischer Maßnahmen (Befunde) unterlässt.
Diagnosefehler
Diagnosefehler, Diagnoseirrtum, Befundauswertungsfehler werden nebeneinander als Begriffe verwendet, die alle das Gleiche meinen.
Die Rechtsprechung ist in der Annahme eines Diagnosefehlers, das heißt der Fehlbewertung erhobener Befunde, zurückhaltender als im übrigen Therapiesektor. Irrtümer bei der Diagnosestellung, die in der Praxis nicht selten vorkommen, sind oft nicht die Folge eines vorwerfbaren Versehens des Arztes. Die Symptome einer Erkrankung sind nämlich nicht immer eindeutig, sondern können auf die verschiedensten Ursachen hinweisen. Auch kann jeder Patient wegen der Unterschiedlichkeiten des menschlichen Organismus die Anzeichen ein und derselben Krankheit in anderer Ausprägung aufweisen. Unspezifische oder mehrdeutige Symptome, Variationen im individuellen Krankheitsverlauf und eine große Zahl an Differentialdiagnosen können den Behandler auf eine falsche Fährte locken. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der vielfachen technischen Hilfsmittel, die zur Gewinnung von zutreffenden Untersuchungsergebnissen einzusetzen sind.
Schon 1981 hat deshalb der Bundesgerichtshof grundlegend festgestellt, dass eine objektiv unzutreffende Diagnose nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 14.07.1981 – VI ZR 35/79). Dabei ist er bis heute geblieben.
Ein Diagnosefehler kann dem Arzt nur vorgeworfen werden, wenn sich die Diagnose als nicht mehr vertretbar darstellt oder wenn Symptome vorliegen, die für eine bestimmte Erkrankung kennzeichnend sind, vom Arzt aber nicht hinreichend berücksichtigt werden, oder wenn die Fehldiagnose darauf beruht, dass der Arzt die notwendigen Befunderhebung unterlassen hat.
Mangelnde Vertretbarkeit wird angenommen, wenn sich die Diagnose als nicht mehr „verständliche“ Deutung der Befunde darstellt bzw. wenn Befunde nicht berücksichtigt wurden.
Fazit: Ein Diagnosefehler (oder Diagnoseirrtum oder Befundauswertungsfehler) liegt vor, wenn ein Arzt vorliegende (erhobene) Befunde falsch interpretiert oder auswertet und die gestellte Diagnose nicht mehr vertretbar ist.
Unterschied Befunderhebungsfehler und Diagnosefehler
Die Abgrenzung zwischen einem Befunderhebungsfehler einerseits und einem Diagnosefehler andererseits bereitet in der Praxis bisweilen Schwierigkeiten. Während ein Befunderhebungsfehler stets als ein Behandlungsfehler anzusehen ist, gilt dies bei Vorliegen eines Diagnosefehlers keineswegs uneingeschränkt. Genau deshalb ist die Unterscheidung zwischen Befunderhebungsfehler und Diagnosefehler so wichtig. Für den Patienten ist es grundsätzlich günstiger, wenn das ärztliche Fehlverhalten als Befunderhebungsfehler statt als Diagnosefehler angesehen wird.
Ein Befunderhebungsfehler ist dann gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird. Im Unterschied dazu liegt ein Diagnosefehler vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen – therapeutischen oder diagnostischen – Maßnahmen ergreift.
Wird dem Arzt in erster Linie eine Fehlinterpretation des erhobenen Befundes angelastet, so liegt ein Diagnosefehler vor. Der Diagnosefehler wird allerdings nicht zu einem Befunderhebungsfehler, wenn bei objektiv zutreffender Diagnosestellung noch weitere Befunde zu erheben gewesen wären (vgl. BGH, Urteil vom 21.12.2010, Az. VI ZR 284/09).
Fazit: Die entscheidende Frage für die Einordnung ist, ob eine Fehlinterpretation von erhobenen Befunden oder deren Nichterhebung im Vordergrund steht. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei einem Diagnosefehler Befunde erhoben, aber fehlerhaft gedeutet wurden, während bei einem Befunderhebungsfehler die Erhebung des Befundes an sich bereits unterlassen wurde.
„Grober“ Behandlungsfehler
Die Bewertung eines ärztlichen Fehlverhaltens als „grob“ richtet sich nach den gesamten Umständen des Einzelfalls. Ein Behandlungsfehler ist dann als „grob“ zu bewerten, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (vgl. BGH NJW 2012, 227).
Hierbei kommt ein Verstoß gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse sowohl dann in Betracht, wenn es für den konkreten Einzelfall klare und feststehende Vorgaben, Handlungsanweisungen, Leitlinien oder Richtlinien gibt, gegen die verstoßen wurde, also auch dann, wenn elementare medizinische Grundregeln, die im jeweiligen Fachgebiet vorausgesetzt werden, nicht beachtet wurden (vgl. BGH NJW 2011, 3442).
Bei einem Diagnosefehler ist dieser als „grob“ anzusehen, wenn die Interpretation des Befunds nicht nur unvertretbar, sondern darüber hinaus unverständlich erscheint.
Die Beurteilung, ob ein Behandlungsfehler als „grob“ oder „nicht grob“ einzustufen ist, ist zwar eine juristische Wertung, die dem Tatrichter und nicht einem Sachverständigen obliegt, jedoch muss die Bewertung eines Behandlungsgeschehens als „grob“ fehlerhaft in den Ausführungen eines Sachverständigen ihre tatsächliche Grundlage finden (vgl. BGH NJW 2012, 227). Insofern ist durch einen Sachverständigen bei Gericht möglichst konkret auszuführen, ob der Fehler ein „grober“ ist und ob sich das Risiko verwirklicht hat, dessen Nichtbeachtung den Fehler als „grob“ erscheinen lässt (vgl. BGH NJW 1981, 2513).
Fazit: Ob ein Behandlungsfehler als „grob“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu bewerten ist, ist für die Beweislastverteilung maßgeblich. Liegt ein „grober“ Behandlungsfehler vor und ist dieser grundsätzlich geeignet, eine Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, wird vermutet, dass der Behandlungsfehler für diese Verletzung ursächlich war. Dem Patienten kommt daher eine Beweislastumkehr zugute, wenn der Behandlungsfehler als „grob“ zu bewerten ist.
Beweislastverteilung
Grundsätzlich beweist in einem Zivilprozess jeder die für ihn günstigen Tatsachen. Daher trägt die Patientenseite im Arzthaftungsprozess die Beweislast für das Vorliegen eines Behandlungsfehlers, die Verantwortlichkeit des Arztes, den Schaden und die Ursächlichkeit, dass die eingetretene Verletzung auf dem Behandlungsfehler beruht.
Gelingt es dem Patienten, einen groben Behandlungsfehler, der grundsätzlich geeignet ist, eine Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, zu beweisen, greift gemäß § 630h Abs. 5 S. 1 BGB eine Beweislastumkehr: Es wird vermutet, dass der Behandlungsfehler für diese Verletzung ursächlich war. Der Arzt muss jetzt also beweisen, dass die eingetretene Verletzung nicht auf seinem Fehlverhalten beruht.
Bei einem Diagnosefehler kommt eine Beweislastumkehr nur dann in Betracht, wenn der Fehler als „grob“ einzustufen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stellt ein Fehler bei der Interpretation der erhobenen Befunde nur dann einen schweren Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst und damit einen „groben“ Diagnosefehler dar, wenn es sich um einen fundamentalen Irrtum handelt.
Bei einem Befunderhebungsfehler ist zu beachten, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch unterhalb der Schwelle zum groben Behandlungsfehler sich eine Beweiserleichterung für den Patienten ergeben kann. Eine Beweiserleichterung für den Patienten greift dann ein, wenn bei der Unterlassung der Erhebung und/oder Sicherung medizinisch gebotener Befunde der Patient beweist, dass die (hypothetische) Befunderhebung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein positives und deshalb aus medizinischer Sicht reaktionspflichtiges Ergebnis gehabt hätte und das Unterlassen der Reaktion hierauf als grober Fehler, sei es als fundamentaler Diagnosefehler, sei es als grober Behandlungsfehler, zu bewerten wäre (BGH, Urteil vom 09.01.2007 – VI ZR 59/06 m.w.N.).
Nach der Rechtsprechung ist eine fehlerhafte Durchführung der Befunderhebung, die zwangsläufig zu unvollständigen bzw. teilweise nicht erhobenen Befunden führt, hinsichtlich der Beweislast einer vollständig unterlassenen Befunderhebung gleichzustellen.
Fazit: Nicht nur die Frage, ob ein „grober“ oder ein „einfacher“ Behandlungsfehler vorliegt ist entscheidend für die Beweislastverteilung im Arzthaftungsverfahren. Auch die Frage des „Fehlertyps“ ist bedeutend dafür, wer die Beweislast trägt. So führt ein Diagnosefehler in der Regel nicht zu einer Beweislastumkehr, während auf Grundlage des § 630h Abs.5 S.2 BGB es bei einem Befunderhebungsfehler in der Regel zu einer Beweislastumkehr kommt. Auch ein einfacher Behandlungsfehler bzw. Befunderhebungsfehler genügt zur Beweislastumkehr, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bei fehlerfreier Diagnose bzw. ordnungsgemäßer Befunderhebung sich ein reaktionspflichtiger Befund ergeben hätte und das Unterbleiben der Reaktion auf diesen (hypothetischen) Befund unverständlich gewesen wäre.
Ein Beitrag von Daniel Mahr